Ursula Böstel – ein Jahrhundertleben

12.04.2015 bis 09.08.2015

Ursula Böstel wurde am 20. Januar 1915 in Leipzig geboren. Ihr Vater, Benno Schlizio, verkörperte als Jurist den typischen Intellektuellen jener Zeit. Mutter Rosa stammte aus einer liberalen Familie, die der SPD nahe stand. Ihre weltoffene und lebensfrohe Gesinnung dürfte sie ihrer Tochter mitgegeben haben.

Ursula war als erste von zwei Töchtern ein aufgewecktes, wissbegieriges und geselliges Kind. Bereits als 14-Jährige führte sie bei den Christlichen Pfadfindern Wandergruppen an. Dabei lernte sie im Herbst 1933 auch Kurt Böstel kennen, der seit 1927 als Pfarrer der Dorfkirchen zu Polenz und Ammelshain wirkte. Im Frühjahr 1934 legte Ursula Schlizio in Leipzig an der renommierten Gaudig-Schule das Abitur mit Bravour ab. Sie hatte sich schon sehr früh auf einen Beruf verlegt, der ihr Berufung schien: Volksschullehrerin, um Lernanfängern den Weg ins Leben zu ebnen. Im November 1934 heiratete sie Kurt Böstel. Die junge Ehefrau, noch nicht einmal 20, ließ ihrem Mann zuliebe eigene Berufspläne fallen und zog von Leipzig nach Polenz. Ernst, Heinrich und Gertrud wurden als Wunschkinder zwischen 1939 und 1941 geboren.

Ursula Böstel, selbstbewusst, offen und kommunikativ, fügte sich keineswegs passiv ins Dorfleben ein. Von Anfang an suchte sie sich voller Eifer Sitten und Gebräuche, Traditionen und vom Untergang bedrohte Kulturgüter anzueignen. Ihr bisher Unbekanntes sog sie mit allen Sinnen auf. In Leipzig, am früheren Königin-Carola-Gymnasium, belegte sie von 1937 bis 1939 einen Fortbildungskurs, den sie erfolgreich als „Meisterhausfrau“ abschloss. Das sei „eine knallharte Vorbereitung für Führungstätigkeiten von Frauen im Krieg“ gewesen. 

Von Anbeginn nahm sich Ursula Böstel der Dorfjugend an. Dass die Halbwüchsigen gelangweilt herum lümmelten, war ihr ein Dorn im Auge. Also kümmerte sie sich um sie. Sie lud die jungen Leute zu Spiel und Sport zu sich. Die Sonntagsnachmittage bei Böstels waren legendär. Ihre Jugendarbeit schloss auch die Obhut für die Junge Gemeinde ein. Kindern und Jugendlichen blieb sie bis an ihr Lebensende besonders verbunden. Bis 2005, also noch mit 90 Jahren, erteilte sie vielen Schülern Nachhilfe. 

In der schweren Nazi-Zeit und während des Krieges übernahm Ursula Böstel von ihrem im Feld stehenden Ehemann etliche seiner Pfarramtspflichten. So sorgte sie dafür, dass heiratswillige Bürger Ariernachweise erhielten. Sie führte das Pfarramt mit größtem Einsatz und Geschick, obwohl oft das notwendige Geld für wichtige Obliegenheiten fehlte. 

Sie übernahm für viele Jahre die kirchenmusikalische Betreuung der Gottesdienste und die Verantwortung für den reibungslosen Ablauf des liturgischen Geschehens in Polenz, Ammelshain und anderswo.  

Die Volkskundlerin

Ihr Interesse an allem wahrhaft Volkstümlichen erwachte im dörflichen Milieu von Polenz und Umgegend. 1948 vermittelte ihr Gertrud Weinhold, die ein Leben lang religiöses Brauchtum aus aller Welt gesammelt hat, schon bei ihrer ersten Begegnung in Berlin tiefgehende Einblicke in die religiöse Volkskunst. Lebenslange Verbindung hielt sie zu zwei Großen der Zunft. Anfang der 1950er Jahre wurde sie mit den bedeutenden Volkskundlern Wilhelm Fraenger, Berlin, und Manfred Bachmann, Dresden, bekannt. Beiden verdankte sie nicht nur Wissen und Anregungen, sondern auch praktische Aufgaben. Bachmann, damals Direktor des Staatlichen Museums für Volkskunst, vermittelte ihr einen Forschungsauftrag der Akademie der Wissenschaften über Gebildgebäck. Modelle solcher kunstvollen Gebäcke waren im Dresdener Museum ausgestellt, aber auch in Berlin, Leipzig, Weißenfels und Wurzen. Bis Ende der 1950er Jahre beteiligte sich Ursula Böstel an den Weihnachtsausstellungen im Museum für Stadtgeschichte im Alten Rathaus zu Leipzig. Ihre 60 bis 80 Zentimeter großen Strohsterne galten als besonderer Augenschmaus.  

In Zusammenarbeit mit Christian Rietschel, einem Urenkel des in Pulsnitz geborenen bedeutenden Bildhauers Ernst Rietschel, hat sie 40 Jahre lang die Weihnachtsausstellungen der Kreuzkirche Dresden mit Blaudrucken, Krippen und Strohsternen beschickt. Da fand auch ihre Sammelleidenschaft ein öffentliches Forum, denn die Krippen hat sie, soweit es ihr angespannter pekuniärer Rahmen erlaubte, erworben und oftmals auch gestaltet.  

Manfred Bachmann ermunterte die von ihm geschätzte Kollegin aus Polenz auch, ihre Erforschung und Anwendung des Blaudrucks zu intensivieren. Ab 1955 recherchierte sie unermüdlich religiöse Motive. Dann reaktivierte sie längst vergessene Muster in Blaudruck. Die technische Realisation übernahm die Werkstatt Stein aus Pulsnitz. 

Der Blaudruck führte zum Patchwork. Doch gab es in der DDR weder einschlägige Fachliteratur noch Lehrer. So erarbeitete sich Ursula Böstel alle Fertigkeiten autodidaktisch. Mitte der 1990er stieß die Kreative auf Paramentik. Bei der Fertigung von Altarbehang oder dessen Restaurierung wandte sie auch ausgeklügelte Patchwork-Technik mit an.

Ursula Böstel war beileibe keine Volkskundlerin, die ihre Entdeckungen und Erkenntnisse wie Geheimnisse hütete. Ihre allgemeine Beliebtheit gründete zum großen Teil in ihrem Streben, möglichst viele Interessierte in „ihre Welt“ einzulassen und sie mit ihrem reichen Wissen und praktischem Können dafür zu begeistern. Ganz organisiert setzte sie ihre Vermittlerrolle im Zirkel für Bildnerisches Volkskunstschaffen um. Rund 40 Jahre lang betreute und formte sie in Wurzen ihre Eleven. 

Ursula Böstel mit dieser Ausstellung zu ehren, heißt also, nicht nur ihre Exponate zu bewundern, sondern ihrer facettenreichen Persönlichkeit wiederzubegegnen. Und ihres Credos eingedenk zu sein, das sie mit Thomas Morus, Jean Jaurès, Gustav Mahler und anderen teilte: „Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme.“

Was dem Besucher in sinnlicher Wahrnehmung entgegentritt, atmet den Geist und die Intentionen der Volkskundlerin, Vortragskünstlerin und Lebensphilosophin.

Ursula Böstel starb am 5. Februar 2007 in ihrem 93. Lebensjahr.

Wulf Skaun