Trainieren für den Krieg – Die Knabenexerzierschule Wessel in Grimma

Im frühen 20. Jahrhundert erfreuten sich Exerzierschulen für Kinder großer Beliebtheit. Dieses Phänomen des Militarismus war nicht nur auf Deutschland oder Europa beschränkt, sondern trat weltweit auf. Diese Schulen waren in Deutschland meist privat und der Besuch freiwillig. Bezweckt wurden neben der körperlichen Ertüchtigung eine militärische Vorbildung und die Heranbildung von Gehorsam und Disziplin.

Seit Oktober 1906 bestand auch in Grimma eine solche Knabenexerzierschule, welche der hiesige Steueraufseher Wessel ins Leben rief und als Exerziermeister leitete. Am 17. März 1907 stellte sich die Schule im Saal der „Terrasse“ (heute Stadtarchiv) zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. Die Kinder konnten halbjährlich im April bzw. Oktober gegen ein Schulgeld angemeldet werden. Ein patriotisch gesinnter Grimmaer spendete 1908 sogar zwei Freistellen.

Der Schule gehörten im Schnitt 50 bis 60 Knaben im Alter von sechs bis zehn Jahren an. Die Übungen fanden samstags in der Turnhalle der Bürgerschule (Schule Wallgraben) bzw. im Freien statt. Die Knaben übten hierzu in zwei Abteilungen verschiedene militärische Freiübungen ein. Wie beim Heer konnte man auch hier eine militärische Laufbahn vom Rekruten bis zum Leutnant durchlaufen.
Zum Unterricht gehörten das Einstudieren verschiedener Märsche im Stech- oder Laufschritt samt Musik, militärischer Ehrerweisungen und Wendungen, sowie Gewehr- und Griffübungen. Selbst der Wachdienst wurde mit eigens hierfür angefertigten Schilderhäusern geübt. Die Jungs waren dabei mit Uniformen, Helmen, stumpfen Säbeln, Gewehrattrappen, Tornistern, Trommeln und Trompeten voll ausgerüstet. Bei größeren Veranstaltungen wurdenteilweise auch Preisschießen abgehalten.
Alljährlich fanden am 1. Weihnachtsfeiertag und um Ostern öffentliche Schauvorführungen im Saal der „Terrasse“ statt, welche gleichzeitig als Prüfung dienten. Hierbei präsentierte die Schule den Eltern und allen Enthusiasten die Fortschritte, die ihre Schützlinge machten. Diese Veranstaltungen, bei denen das ganze Repertoire gezeigt wurde, erfreuten sich großer Beliebtheit. Den Schluss bildeten in der Regel mehrere Parademärsche und ein Preisschießen.

Gelegentlich wurden auch Felddienstübungen abgehalten, bei denen Abteilungen von anderen Exerzierschulen als Gegner dienten. So trafen die Grimmaer beispielsweise 1909 bei einem „Manöver“ in Kleinbardau auf feindliche Abteilungen der Knabenexerzierschule von Bad Lausick. Bei dieser Übung besetzten die Grimmaer den südlichen Ortsrand und wurden von den Bad Lausickern „angegriffen“. Nachdem der Kampf gegen nachmittag beendet war, zeigten die etwa 140 Kinder beider Schulen auf der Parthenwiese ihr restliches Können.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Exerzierschule obsolet, da das sächsische Schulministerium im September 1914 die Bildung von sogenannten Jungmannschaften anordnete. Die Beteiligung war nun für alle Schüler verpflichtend, während die Ausbildung im Wesentlichen gleich blieb. Allerdings wurden die Kinder nun von richtigen Offizieren unterrichtet und es wurde, mit Hinblick auf die Strapazen des echten Krieges, mehr Wert auf die körperliche Ertüchtigung gelegt. Anstatt der Exerzierschulen übernahmen in Deutschland nach dem verlorenen Krieg Vereine oder Parteien eine ähnliche vormilitärische Ausbildung der Jugend.

Peter Fricke, 2015